Der Feind, der Freund

Uraufführung „Lothar und der große Geist“ mit Tom Pauls und Jörg Schüttauf auf dem Theaterkahn

Könnten kaum gegensätzlicher sein, sind sich aber ähnlicher, als sie glauben: Lothar (Tom Pauls, l.) und Lothar (Jörg Schüttauf).

Von Christian Ruf, Dresdner Neueste Nachrichten vom 08. Februar 2016, Seite 9

„Großer Geist, steh mir bei, dass ich über keinen Menschen urteile, bevor ich nicht einen halben Mond in seinen Mokkasinns gegangen bin.“ So steht es geschrieben. Gleich auf Seite Zwo des Programmheftes zum Stück „Lothar und der große Geist“, das jetzt auf dem Theaterkahn seine Uraufführung erlebte. Kluger und deshalb gern zitierter, weil ganz auf die endlose Tiefe alter Indianerweisheit bauender Spruch – bleibt zu hoffen, dass er nicht eine ähnliche Fälschung ist, wie die gern zitierte und von der Öko-Bewegung gar als eine Art fünftes Evangelium erachtete Rede des Häuptlings Seattle (eigentlich Seeath), der Sätze wie „Erst wenn der letzte Baum gerodet, der letzte Fluss vergiftet, der letzte Fisch gefangen ist, werden die Menschen feststellen, dass man Geld nicht essen kann“ nie gesagt hat.

„Lothar und der große Geist“ ist eine Komödie – aber eine mit sehr ernsten Untertönen, eine, die einem ins Gewissen redet, bei der einem das Lachen gelegentlich sogar im Halse stecken bleibt. Verfasst wurde das Werk von Holger Böhme und der hat es auch in Szene gesetzt. Das Bühnenbild ist simpel, aber mehr als ein Tipi, wie es bei den Reitervölkern der Great Plains in Gebrauch war, braucht es nicht an Kulisse. Die Handlung spielt nicht im Wilden Westen der USA, sondern in dem von Ostdeutschland, wo die Begeisterung für Indianer eine lange Tradition hat, genährt durch die Romane Karl Mays oder einschlägige sozialistisch-korrekte Indianer-Filme mit Gojko Mitic als stets edlem Krieger. Und an gelernten DDR-Bürgern, die gegen alle politischen Widerstände verkleidet den Traum von Freiheit und Abenteuer träumten, war bekanntlich kein Mangel. Relikte dieser Fan-Kultur leben noch, Otto Normalbürger hat nicht zuletzt dann Kontakt mit ihr, wenn in Radebeul die Karl-May-Festtage über die Bühne gehen.

Lothar (Tom Pauls) ist einer, der der Sache treu geblieben ist, einen auf Häuptling Sitting Bull macht und nun von dem Neuen im Verein zu hören bekommt, dass seine Gesichtsbemalung nicht stimmt. Und überhaupt: Wer ihn anschaue, sehe nicht Sitting Bull, „sondern einen kleinen dicken Mann, der sich verkleidet hat“. Der Neue, das „Greenhorn“, heißt auch Lothar (gespielt wird er von Jörg Schüttauf und des besseren Verständnisses ab sofort Lothar II genannt), ist – ausgerechnet – als US-Kavallerist verkleidet (allerdings trägt er nicht die bekannte blaue Uniform, sondern die erst kurz vor 1900 eingeführte braune) und legt eine Art an den Tag, dass Lothar I seinen Namensvetter recht bald wissen lässt: „Ich will ja nichts sagen, aber wenn ich irgendwo neu bin, da wird von mir erwartet, dass ich erstmal die kleine Trommel nehme und erstmal sehe, wie es hier läuft“.

Lothar II wurde zwar in Hohenstein-Ernstthal geboren, kommt aber de facto aus Hannover und ist also das, was der Ostdeutsche oft, vor allem im Ärger oder Zorn, pauschal und verächtlich „Wessi“ nennt. Als Lothar II nach einer Weile sogar mal sächselt, fühlt sich Lothar I veräppelt, so wie er schon vorher aus der Haut fuhr, als er „Rothaut“ als Vorwurf interpretierte, er sei eine rote Socke gewesen. Eine Form des Widerstands sei die Traditionspflege der Wildwest-Fans gewesen.

Aber zum Glück ist „Lothar und der große Geist“ mitnichten eine der typischen 0815-Ost-West-„,Komödien“, die von Feindbildern und Klischees leben und Vorurteile und Opfer-Haltungen bedienen. Lothar I und Lothar II mögen auf den ersten Blick in verschiedenen Lagern stehen, aber sie kommen sich – beim Bier – näher. Und merken rasch, dass der andere auch nur ein Mensch ist – und zwar einer mit Problemen. Lothar II ist die Frau weggelaufen, er hadert immer noch mit dem verstorbenen Vater, der kein guter Vater war, und die Tatsache, dass er Polizist ist, macht ihn auch nicht gerade beliebt. Lothar I, den Lothar II irgendwann auffordert, „Du bist als Feind mein einziger Freund. Sei ehrlich!“, hingegen hat auch Ärger, allen voran mit dem (aus seiner Sicht) Vollversager von Sohn, dem jetzt Anklage, ja sogar Knast droht, weil er auf einer Demo einen Stein schmiss und einen Polizisten verletzte.

Der Abend verhandelt ernste Themen, etwa wenn er andeutet, wie Polizisten in Einsätzen regelrecht verheizt werden und gar nicht anders können, als sich im Stich gelassen zu fühlen. Böhmes Werk trägt aber das Etikett „Komödie“ letztlich verdient, wartet es doch an den richtigen Stellen auch mit vielen hübschen Witzen auf, bei denen die Dosierung bei der Kombination aus Froh- und Tiefsinn einfach stimmt. Etwa wenn Lothar II verärgert wie belustigt ob der es mit der Wirklichkeit nicht genau nehmenden Traditionspflege in diesem Indianer-Verein darauf beharrt: „Ein Spiel ist nur dann ein gutes Spiel, wenn man es ernst nimmt.“ Oder wenn Lothar I beteuert: „Karl May ist kein Schwindel, Karl May ist … äh, … Fantasie.“

Und auch schauspielerisch gibt es nüscht zu meckern. Im Gegenteil. Pauls’ hinreißende Begabung fürs Komische zu würdigen, hieße Eulen nach Athen tragen. Aber er kann auch ernste Töne anschlagen, eigentlich ist er sogar noch besser, wenn er mal das Fischelante á la Bähnert außen vor lässt und den sich selbst entlarvenden Kleinbürger gibt, der schon mal grantelt: „Wir müssen eine Kultur verteidigen, das Entstehen von Parallelgesellschaften verhindern.“ Aparte Idee: Pauls bemüht nicht tiefsächsischen Dialekt, sondern befleißigt sich jenes Idioms, wie es mit rollendem R in Teilen der Oberlausitz noch fröhliche Urständ feiert. Schüttauf gibt seinen Lothar als sehr äußerlich abgeklärten, innerlich aber verletzten Menschen, der im Gegensatz zu Lothar I sein Herz nicht auf der Zunge trägt, aber eigentlich genau dies ganz gern würde.

Lothar I wie II sind hilfsbedürftig. Und sie werden einander helfen, nachdem sie schwere, auch innere Kämpfe ausgefochten und ihre Vorurteile abgelegt haben. Und dafür war es nicht mal nötig, einen halben Mond in den zwar weichen, aber wahrscheinlich auch nicht gerade angenehm duftenden, weil abgelatschten Mokassins den anderen zu laufen.